Marthas Hof: Eine soziale Einrichtung für Dienstmädchen in Berlin

Im 19. Jahrhundert spielte Marthas Hof eine entscheidende Rolle als soziale Einrichtung für Dienstmädchen in Berlin. Gegründet von Pastor Theodor Fliedner, bot der Hof Schutz und Bildung für junge Frauen, die oft unter schwierigen Umständen in die Hauptstadt kamen.

Gründung der Herberge

Die Herberge auf dem Verlorenen Weg, heute bekannt als Schwedter Straße 37 – 40, wurde 1854 als Zufluchtsort für Mägde initiiert. Diese Frauen wurden häufig mit falschen Versprechungen in die Stadt gelockt und waren gefährdet, in prekäre Lebenssituationen abzurutschen. Angesichts der zunehmenden Fälle syphilitischer Erkrankungen unter den Dienstmädchen in der Charité, suchten die dienenden Kaiserswerther Diakonissinnen nach Wegen, um die betroffenen Mädchen zu schützen. Pastor Fliedner, der Gründer der Kaiserswerther Anstalten, reagierte auf diese Notlage, indem er eine Herberge für bedürftige evangelische Mädchen ins Leben rief.

Entwicklung des Nickelhofs zu Marthas Hof

Der Nickelhof, ein ehemaliges Bauerngehöft, stand bereits seit 1843 aufgrund ökonomischer Schwierigkeiten zum Verkauf. Fliedner erwarb das Anwesen mit privaten Spenden und gründete dort die Herberge, die zunächst zwölf Mädchen beherbergte und von drei Diakonissinnen betreut wurde. Die Einrichtung wuchs rasch an und musste bald auf achtzig Betten erweitert werden, um den Bedürfnissen der zahlreichen ehrbaren und unerfahrenen Mädchen gerecht zu werden, die in Berlin keine Anstellung finden konnten.

Bildungsangebote und Alltagsleben

Marthas Hof avancierte dank der Unterstützung führender Berliner Gesellschaftskreise zu einer angesehenen Institution. Ein Jahr nach der Gründung eröffnete ein Kindergarten, und 1859 begann der Unterricht in einer privaten Elementarschule für Mädchen. Die Dienstmädchen wurden in Haushaltsarbeiten ausgebildet und gleich behandelt, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Nach ihrer Ausbildung wurden sie an seriöse Haushalte vermittelt, wobei darauf geachtet wurde, dass sie neben ihren Pflichten auch Rechte hatten.

Umbenennung und Expansion

Mitte der 1850er Jahre erwarb Fliedner den Nickelhof und benannte ihn 1864 in „Marthas Hof“ um, nach der biblischen Figur Martha, die für ihre dienende Rolle bekannt ist. Eine neue Schule wurde errichtet, die Platz für über einhundert Schülerinnen bot und von drei Diakonissinnen geleitet wurde. Der Pfarrer der nahegelegenen St. Elisabethkirche übernahm die Schulleitung.

Entstehung der Schwedter Straße aus dem Verlorenen Weg

In der Vergangenheit war der Verlorene Weg ein finsterer Pfad in den Wintermonaten, gemieden von Kutschern, die befürchteten, im Schlamm stecken zu bleiben. Dieser Weg, der sich durch die ausgedehnten Felder der Pankower Feldmark schlängelte, erhielt seinen Namen, weil er scheinbar im Nichts endete. Trotz geringer Erfolgsaussichten für die Zufluchtsstätte „Marthas Hof“, wuchs die Stadt Berlin über ihre Grenzen hinaus und umgab schließlich die einst abgelegene Stätte mit urbaner Bebauung. Die ehemaligen Feldwege wurden zu gepflasterten Straßen ausgebaut, unter ihnen der Verlorene Weg, der fortan als Schwedter Straße bekannt wurde. Die Wohnhäuser, die entlang dieser Straße errichtet wurden, boten meist ärmlichen Familien ein Zuhause und spiegelten den städtischen Zuwachs wider.

Marthas Hof – Zufluchtsort und Bildungsstätte

Marthas Hof, ursprünglich eine Herberge für Frauen und Mädchen, entwickelte sich zu einem bedeutenden sozialen Zentrum. Die Mädchenherberge bot alleinstehenden Frauen, die oftmals unter harten Bedingungen in nahegelegenen Fabriken arbeiteten, Kost und Logis für monatlich drei Taler. Mit der Zeit und dem Anwachsen der Bevölkerung im Prenzlauer Berg erreichte Marthas Hof seine Kapazitätsgrenze, die erst 1870 durch den Umzug in einen Neubau bewältigt werden konnte. Die Einrichtung expandierte und bot hunderten von Mädchen nicht nur Unterricht in verschiedenen Fächern, sondern auch hauswirtschaftliche Ausbildung an.

Schließung der Mädchenherberge und Fortführung der Schule

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Mädchenherberge geschlossen, weil sie sich finanziell nicht mehr trug und staatliche Unterstützung ausblieb. Der Schulbetrieb hingegen setzte sich fort, wobei der Lehrplan der Berliner Gemeindeschulen unterrichtet wurde. Obwohl die Mädchenschule hohes Ansehen genoss und die Arbeit der Diakonissinnen geschätzt wurde, erhielt die Einrichtung erst ab 1924 staatliche Förderungen. Im Jahr 1917 verzeichnete die Schule eine beeindruckende Kapazität von über 600 Schülerinnen.

Das Ende der Mädchenschule und die Umwandlung von Marthas Hof

1938 musste die Mädchenschule der Kaiserwerther Diakonie aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und des zunehmenden Drucks der nationalsozialistischen Machthaber schließen. Marthas Hof wurde in den Gesamtverband der Inneren Mission der evangelischen Kirche eingegliedert und die Mädchen auf staatliche Volksschulen verteilt. Die Einrichtung diente fortan als Unterkunft für Arbeiterinnen und als Altersheim, während lediglich der Kindergartenbetrieb fortgeführt wurde.

Marthas Hof: Ein Zufluchtsort während des Nationalsozialismus

Während der Herrschaft der Nazis diente „Marthas Hof“ als ein Zufluchtsort für jüdische Frauen, die dort versteckt und vor der Verfolgung geschützt wurden. Diese Phase der Geschichte des Hofs zeugt von humanitärem Mut und Solidarität in einer Zeit der Dunkelheit.

Zerstörung und Nachkriegsbestrebungen

In der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 wurde Marthas Hof durch den Einschlag von Phosphorbomben schwer beschädigt, woraufhin die Gebäude völlig ausbrannten. Nach dem Krieg beabsichtigte die Innere Mission, angeführt von Pastor Willi Ernst Hagen, die ehemalige Herberge für soziale Zwecke wiederaufzubauen. Sie ersuchte darum, die Baumaterialien, die aus den Trümmern geborgen werden konnten, nicht für andere Zwecke zu verwenden.

Pläne, Streitigkeiten und der Verfall der Ruinen

In den 1950er Jahren entstanden Pläne für den Neubau einer Schule und einer Kindertagesstätte auf dem Gelände. Ein Jahr später wurde das Grundstück an die Adolf-Stöcker-Stiftung übertragen, mit der Auflage, die vorhandenen Gebäudereste wieder aufzubauen. Jedoch hatte der Magistrat von Berlin zusammen mit dem Chefarchitekten andere Vorstellungen und plante, einen Kohlenhändler auf dem Gelände anzusiedeln. Nach Einsprüchen des neuen Eigentümers blieb das Areal ungenutzt und die Überreste verfielen so stark, dass sie schließlich auf Anordnung der Bauaufsicht abgerissen wurden.

Neugestaltung im Zeichen des Handels

Erst gegen Ende der 1960er Jahre wurde ein Verfahren gegen den Eigentümer auf Betreiben der Ko-Impex, einer Außenhandels- und Devisenbeschaffungsfirma, eingeleitet. Dies führte dazu, dass das Gelände am 1. Oktober 1969 lastenfrei in das Volkseigentum überging. Die Ko-Impex errichtete Bürobaracken für ihre Mitarbeiter und vermietete nicht genutzte Flächen an den Zentralen Warenkontor für Obst, Gemüse und Speisekartoffeln.

Wandel nach der Wende und die Entstehung des Mauerparks

Mit der politischen Wende wurden die verlassenen Baracken zunächst von kleineren Unternehmen genutzt, bevor sie endgültig abgerissen wurden. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Beseitigung der Grenzanlagen wurde auf dem ehemaligen Mauerstreifen der Mauerpark angelegt. Die Schwedter Straße, die den heutigen Mauerpark durchquert, endet an der Behmstraße und -brücke. Dieses Straßenstück gehörte zwischen der Bernauer Straße und der Behmstraße zum Grenzgebiet der DDR. Nach der Wende stieß man bei Abrissarbeiten auf die Überreste des sogenannten „Verlorenen Wegs“, ein Stück Geschichte, von dem man annahm, es sei für immer verschwunden. Heute ist dieser ehemals verlorene Weg die zentrale Achse des Mauerparks und bildet eine wichtige Erinnerungsstätte an die geteilte Stadt Berlin.

Marthashof – Urban Village: Ein umstrittenes Bauprojekt

Vom Grünen zum Urbanen: Die Verwandlung des Marthas Hofs

Ursprünglich gab es Pläne, das Gelände des Marthas Hofs zu begrünen und zu einem öffentlichen Park umzugestalten. Diese Vision wurde jedoch nicht umgesetzt, da das Areal an Investoren verkauft wurde. Dort entstanden stattdessen luxuriöse Wohneinheiten wie Penthouses, Vertical Villas, Gardenhouses, Townhouses und Lofts. Die Initiative ging vom bayerischen Immobilienentwickler Ludwig Maximilian Stoffel und seiner Frau, der italienischen Modedesignerin Giovanna Stefanel, aus. Sie beabsichtigten, der Stadt Berlin einen Hauch italienischen Flairs zu verleihen. Das Architekturbüro Grüntuch & Ernst, welches den Bebauungswettbewerb gewann, zeichnete sich für die Umsetzung des Projekts verantwortlich.

Konflikte und Kritik am Bauprojekt

Die Entwicklung des Marthashof-Projekts stieß auf erheblichen Widerstand. Kritisiert wurde vor allem die Abholzung des alten Baumbestandes und der Bau des massiven Gebäudekomplexes, der die benachbarten Altbauten in der Oderberger Straße und Kastanienallee verschattete. Die neuen Bauvorhaben lockten bereits im Vorfeld exklusive Boutiquen, Feinkostläden und teure Cafés an, was zur Verdrängung traditioneller, ansässiger Geschäfte führte. Das Viertel wandelte sich immer mehr zu einem Szenegebiet, in dem die sogenannte Latte-Macchiato-Generation das Stadtbild prägt.

Die Anlieger Initiative Marthashof (AIM)

Die Initiative AIM wurde ins Leben gerufen, um den Anwohnern Mitspracherechte bei der Entwicklung des Bauprojekts zu sichern. Viele Bewohner fühlten sich zu spät über das Vorhaben informiert und befürchteten eine Gentrifizierung ihres Kiezes. Trotz der Bemühungen der Initiative konnten keine wesentlichen Änderungen am Bauprojekt durchgesetzt werden. Der Investor bot zwar an, die Bauhöhe an bestimmten Stellen zu reduzieren, um die Proteste zu besänftigen, doch insgesamt blieb der Einfluss der Anwohner begrenzt.

Soziale Spaltung und die neue Mauer

Die Entwicklung des Marthashof-Projekts symbolisiert für viele eine neue Form der sozialen Trennung in Berlin. Die reichere Schicht, die in das ehemalige Arbeiter- und Armenviertel Prenzlauer Berg zieht, steht in Kontrast zu dem ärmeren Bevölkerungsteil im angrenzenden Stadtteil Wedding. Diese soziale Spaltung erinnert an die ehemalige Trennung der Stadt durch die Berliner Mauer, wobei nun die ökonomischen Verhältnisse die Barrieren bilden.

Rückblick: Prenzlauer Berg in den 90ern

In den 1990er Jahren galt Prenzlauer Berg als Anziehungspunkt für junge Menschen und Kreative, die die moderaten Mieten und die offene Atmosphäre schätzten. Studenten-WGs, Kreativbüros und gemütliche Cafés prägten das Viertel und es herrschte ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. Diese ursprüngliche, unkommerzielle und vielfältige Kultur des Kiezes scheint durch die neuen Entwicklungen bedroht.

Gentrifizierung im Prenzlauer Berg: Das Beispiel Marthashof

Ursprung und Widerstand gegen neue Bauprojekte

Der Begriff „Gentrifizierung“ wird oft im Zusammenhang mit dem Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg verwendet, wobei das Projekt „Marthashof“ häufig als Paradebeispiel genannt wird. In den 1990er Jahren, als die Nachfrage nach Wohneigentum in Berlin wuchs, zogen viele Suchende in den Brandenburger Speckgürtel und bauten dort ihre eigenen Häuser. Als das Bezirksamt Pankow später die Bebauung der Margaretenhöhe in Französisch Buchholz plante, war dies nicht nur zu spät, sondern es stieß auch auf erheblichen Protest, da die Fläche als wichtige Frischluftschneise für das nördliche Stadtgebiet galt.

Der Verkaufsstart von Marthashof

Der Investor errichtete an der Ecke Bernauer Straße/Schwedter Straße einen auffälligen lila Verkaufspavillon in Form eines Holzbungalows, um dort seine „Urban-Townhouses“ anzubieten. Zur Eröffnung wurden den Gästen gekühlte Bionade, Lachshäppchen und sanfte Jazzmusik geboten. Ludwig Stoffel und seine Frau inszenierten sich familienfreundlich und hoben hervor, dass Familien mit Kindern ihre Zielgruppe seien. In ihrem Musterbad präsentierten sie einen exorbitant teuren Duschkopf. Die freundliche Atmosphäre änderte sich jedoch, als Mitglieder einer Anwohnerinitiative die Verkaufsräume betraten. Bereits am folgenden Tag sicherten Polizisten den Verkaufsraum, nachdem Demonstranten vorbeizogen und lautstark „Freiräume für den Kiez“ forderten.

Richtfest und Reaktionen der Anwohner

Am 23. September feierte der Investor das Richtfest des Marthashofes mit prominenten Gästen zu italienischen Klängen. Die Baugegner antworteten darauf mit der lautstarken Übertragung der „Internationale“ aus dem Hinterhof der Oderberger Straße. Schon im Jahr 2010, während der Bauphase, zogen die ersten Käufer in ihre Wohnungen ein.

Urban-Townhouses als Zeichen der Abgrenzung

Konzept und Umsetzung

Das Konzept der geschlossenen Bebauung, das man in den USA erfunden hat, findet sich zunehmend auch im Prenzlauer Berg. Diese städtischen Straßendörfer sind für Wohlhabende gedacht, die sich vom Rest der Welt abschotten möchten. Große Klingeltafeln, nur mit Nummern versehen, und ein „Doorman“ im Eingangsbereich, zusammen mit allgegenwärtigen Überwachungskameras, prägen das Bild dieser Anlagen.

Beispiele für exklusive Wohnprojekte

Neben Marthashof gibt es ähnliche Entwicklungen im Prenzlauer Berg, wie etwa die „Prenzlauer Gärten“ auf dem ehemaligen Grundstück des „Schweizer Gartens“. Diese weiße „Townhouse-Siedlung“ in bester Lage am Märchenbrunnen wirbt ebenfalls mit „Sicherheit“ und „Privatsphäre“. Überwachungsanlagen und Sicherheitsdienste sind bereits in der Bauphase zu beobachten. So schützen „türsteherähnliche“ Personen in Zivilfahrzeugen den abgeschlossenen Bauplatz bei Nacht.

Die Folgen für den Stadtteil

Zwischen dem Marthashof und der Wohnanlage No 45, die ebenfalls durch Videotechnik und Doorman gesichert ist, wurden 2010 die Kastanienhöfe fertiggestellt. Auch hier fällt die hochgeschlossene Toreinfahrt und die Videotechnik im Eingangsbereich auf. Alle drei Immobilienprojekte liegen direkt nebeneinander und verändern das Stadtbild sowie die soziale Struktur des Prenzlauer Bergs nachhaltig.